Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Der Knirps

                           

    Über der kleinen Stadt am Harz ging am Mittag des 6. Mai anno 1921 ein ungewöhnlich schweres Gewitter nieder. Es ließ den Flutgraben bedrohlich anschwellen und die Hebamme zu spät zum freudigen Ereignis kommen. Der neue Erdenbürger krähte schon. Im übrigen zog das Unwetter vorüber, ohne größeren Schaden anzurichten. Ein Vorzeichen für eine bedeutsame Zukunft des Neugeborenen, das abergläubische  Anverwandte in den gewaltigen Blitz- und Donnerschlägen sehen wollten, war es nicht.  Der Knabe hat all ihre hochgespannten Erwartungen enttäuscht und es nicht einmal zum Lehrer gebracht, geschweige denn zum Pastor, was der Großvater väterlicherseits gern gesehen hätte.

   Dem Wunsch des Großvaters lagen allerdings keine frommen, sondern - Gott sei's geklagt - sehr profane Erwägungen zugrunde: Der Enkel sollte es einmal besser haben als er, der Tag für Tag bei Wind und Wetter zur acht Kilometer entfernten Silberhütte hatte laufen müssen. Das alte, im 13. Jahrhundert erbaute Pfarrhaus hinter der Mansfelder Kirche (im Bild unten links) gehörte ihm. "Wenn der Junge Pastor wird", gab er zu bedenken, "hat er es nicht weit zur Arbeit.  Da kann ihm die Witterung nichts anhaben,  da steht er schlimmstenfalls bei einer Beerdigung mal im Regen."

   Die Eltern nannten den Stammhalter Helmut und fügten nach alter Tradition die großväterlichen Vornamen Hermann und Ludwig hinzu. Aber kein Mensch rief ihn so. Eine blonde Lockenpracht trug ihm bei seinen Spielgefährten den lächerlichen Spitznamen "Bubi" ein, und die etwas Älteren riefen ihm "Rotfrosch" nach, weil er bei kühlem Wetter einen grässlichen roten Strickanzug trug. "Bubi" klang unmännlich und erregte des Knaben Missvergnügen. "Rotfrosch", Markenzeichen der Schuhcremefirma Erdal, war beleidigend und wurde als unsägliche Schmach empfunden.

   Das Leben lehrte ihn schnell, dass man Übel an der Wurzel packen muss, um sie auszurotten. Der schlimme Rotfrosch  ließ sich auf diese Weise verhältnismäßig leicht aus der Welt schaffen.  Der Bengel kreischte schon beim Anblick des roten Zeugs derart durchdringend, dass die Nachbarschaft glauben musste, ihm würde statt eines Kleidungsstücks das eigene Fell über die Ohren gezogen. Um einem möglichen Vorwurf der Kindesmisshandlung zu entgehen, gab die Mutter entnervt jeden weiteren Versuch auf, den Widerspenstigen in das wärmende Gewand zu kleiden. Die Empfehlung einer wohlmeinenden Cousine, ihm doch einen dieser hübschen Bleyle-Anzüge zu kaufen, lehnte sie indes in weiser Voraussicht strikt ab: "Bleyle? Kommt nicht in Frage! Der Bengel wächst und kostet später noch genug."

   Echten Kummer aber bereitete ihr, dass der Sprössling das Übel des inkriminierenden  Haarschmucks, der doch ihr ganzer Stolz war und alle Tanten so entzückte, sozusagen in Wurzelnähe packte. Er schlich sich heimlich ins Nähzimmer, ergriff die große Kleiderschere und machte aus der Tolle ein derartiges Stoppelfeld, dass der stets humorvolle Vater lakonisch feststellte: "Nichts mehr zu machen. Lass ihm eine Glatze schneiden."

   Immerhin, sein Knirps hatte Entschlusskraft gezeigt - Vätern gefällt das. Im Internat, auf das er mit 13 Jahren kam, hieß er dann kurz und bündig "Bolle". Das war akzeptabel, und da ihn in späteren Zeiten auch seine Frau spontan so nannte,  ist es für seine alten und neuen Freunde ein Leben lang bei "Bolle" geblieben.

   Zu Bolles ersten Pflichten gehörte das Einkaufen. Nachdem die Familie zunächst in der Teichstraße - noch innerhalb der nicht mehr vorhandenen südlichen Stadtmauer - zur Miete gewohnt hatte, kaufte der Vater im Jahre 1925 am neu angelegten Spanweg vor den westlichen Toren der Stadt ein großes Grundstück und baute dort, was man damals eine "Villa" nannte, mit großartigem Ausblick auf den Schlossberg. Von da aus trat Bolle seinen ersten Schulweg an  und  von  dort aus wurde er mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken zum Bäcker, zum Fleischer und zum Kolonialwarenhändler in die Stadt geschickt. Im Rucksack lag ein Portemonnaie und in diesem neben dem nötigen Kleingeld ein Zettel, auf dem die Verkäufer lesen konnten, was er der Mutter alles so bringen sollte.  "Komm aber gleich wieder", mahnte sie stets. "Bummle nicht rum!" Bolle hörte schon gar nicht mehr hin; es war immer das gleiche Lied.

   Aus Schlesien kam die Tante Hertha früher als erwartet zu Besuch. Bolle sollte noch schnell ein viertes Kotelett holen. Auf dem Rückweg musste er wohl oder übel an einem kleinen Bolzplatz vorbei. Nur für fünf Minuten sollte er den Torwart spielen. Den rechten Pfosten markierte ein Stück Holz, den linken der Rucksack. In der Hitze des Gefechtes blieb es nicht aus, dass gelegentlich mal ein Stürmer über diese Markierung stolperte oder der Torhüter selbst im Hechtsprung  darauf landete.  Dabei verging eine Viertelstunde nach der anderen wie im Flug. Plötzlich packte ihn jemand am Ohr. Es war die Mutter. Sie inspizierte den Rucksack und schloss beim Anblick des aus der Form geratenen Koteletts schockiert die Augen. Schließlich sagte sie mit erzwungener Ruhe: "Jetzt gehe i-c-h  zum Fleischer, und Du  scherst dich sofort nach Hause." Daheim gab es dann eine tüchtige Tracht Prügel. Davor bewahrte ihn auch die Anwesenheit der Tante nicht.

   

 

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