Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Der Schüler

   Die Aufnahmeprüfung war ein einziges Fiasko!

Sie begann mit einer Mutprobe, einem Sprung vom Drei-Meter-Brett in den eiskalten Ballenstedter Hirschteich, dessen Wasser  selbst im Hochsommer nicht viel wärmer wurde als zur jetzigen Frühjahrszeit. Jeder Prüfling - ob Schwimmer oder Nichtschwimmer - musste springen, oder er konnte gleich wieder nach Hause fahren.  Aber diesen Sprung durfte  Bolle nicht verweigern. Das hätte ihm der Vater niemals abgenommen, der sehr wohl wusste, dass ein Kopfsprung mit Anlauf vom Drei-Meter-Turm im Möllendorfer Teich neben Streckentauchen zu seinen Spezialitäten gehörte.

     Anschließend standen die aufgeregten  Prüflinge vor der  Tür des Direktors Schlange für das alles entscheidende Aufnahmegespräch. Manch einer  kam strahlend heraus, - der war angenommen. Manch anderer verließ das Zimmer tief niedergeschlagen. Zu letzteren gehörte Bolle. Nichts, aber auch gar nichts hatte funktioniert. Man hatte ihm  keine Chance gelassen. Nicht die geringste - !  Der Schulleiter hatte ihn nach einem Blick in den Aufnahmeantrag gefragt: "Wann bist du geboren?" Und als Bolle diese Frage richtig beantwortete, hatte er gesagt: "Es ist gut,  du bist angenommen." Als der  Vater dies erfuhr, lächelte er sehr zufrieden, drückte dem verdatterten Sprössling fünf Mark in die Hand und sagte: "Da wird sich deine Mutter freuen.  Ich komme in 14 Tagen mal vorbei. Halt die Ohren steif." Da stand er nun, mutterseelenallein und von Gott verlassen.

   Ballenstedt, (Bild oben zeigt das Heim II auf dem Ziegenberg) das war früher eine Prinzenschule der Herzöge von Anhalt und jetzt eine Nationalpolitische Bildungsanstalt, eine NAPOBI wie auf dem Ärmelstreifen der HJ-Uniform zu lesen war. Die Schüler waren kaserniert und erhielten eine soldatische Ausbildung wie die Offizierskadetten der Kaiserzeit. Auf Leibesertüchtigung wurde größter Wert gelegt. Mit einer Fünf in irgendeiner Sportart wurde man gar nicht erst versetzt. Und wer nicht versetzt wurde, musste die Schule verlassen.

   Den gesamten Bedarf stellte die Schule, von der Kleidung über die Zahnbürste bis zum  Bleistift. Niemand brauchte sich etwas zu kaufen, man konnte das von der Schule gezahlte Taschengeld in Höhe von 1,20 RM Mark pro Woche sinnlos verprassen. Das strikte Verbot, sich zusätzlich Geld von zu Hause schicken zu lassen, ließ sich locker umgehen: Jedem Brief von daheim lagen ein paar Briefmarken bei und die waren bei jedem Ballenstedter Geschäftsmann ein gängiges  Zahlungsmittel. Das Schulgeld wurde nach bestandener Aufnahmeprüfung festgelegt und richtete sich nach dem Einkommen der Eltern. Es reichte von Nullkommanix bis maximal 120 Reichsmark.  In Schulpforta wäre ihm dies alles übrigens auch nicht erspart geblieben: diese Schule wurde einige Zeit später ebenfalls in eine NPEA (Nationalpolitische Erziehungsanstalt)  umgewandelt.

   Ansonsten war es eine ganz normale Penne ohne ideologisches Brimborium und Bolle ein mittelmäßiger Schüler, dem sein Klassenlehrer das treffende Prädikat "Saisonarbeiter" verlieh. Das heißt, er war nicht unbegabt, aber er war stinkfaul und schenkte dem Unterricht, vor allem in Mathematik, erst die gebührende Aufmerksamkeit, wenn die schlechteste Klassenarbeit - meist die seine - besprochen wurde: ein Repetierkurs, bei dem er mit der Kreide in der Hand sozusagen "federführend" an der großen Tafel stehen musste - blamabel aber lehrreich. Im allerletzten Herbstzeugnis war schwarz auf weiß zu lesen: Seine Zulassung zum Abitur erscheint wegen seiner großen Lücken in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik und Latein fast aussichtslos. Weihnachten wurde er dennoch bedenkenlos zugelassen und im Februar 1939 baute er schließlich - wenn auch nicht ohne Knalleffekt - mit 17 sein Abitur.

Was hatte das Wunder bewirkt?

   Die Schwierigkeiten in Englisch ließen sich mit sturem Pauken sämtlicher unregelmäßiger Verben und zahlloser Vokabeln bewältigen, was sich für sein späteres Berufsleben als ebenso nützlich erweisen sollte, wie sein lakonischer Schreibstil, der ihm die schlechte Benotung seiner deutschen Aufsätze eintrug. Ein gelungenes Referat über den kurzerhand zum Lieblingsdichter ernannten Conrad Ferdinand Meyer sorgte in der mündlichen Abiturprüfung für rettenden Pluspunkte.

    In Latein aber war wegen mangelnder Grundkenntnisse Hopfen und Malz verloren. Im Gegensatz zum sprachlichen Zweig der Klasse, dem  die eifrigeren Schüler angehörten,  wurde dieser "toten" Sprache in der naturwissenschaftlichen Abteilung kein sonderlich Wert beigemessen.

Diese Karre war hoffnungslos verfahren.

   "Jetzt lesen wir Cäsar", verkündete da der einzige ältere Oberstudienrat der Schule der verdutzt aufhorchenden Prima, nachdem er sich seit der Untertertia damit geplagt hatte, dieser lustlosen Klasse die Sprache der alten Römer anhand eines Lehrbuches nahe  zu bringen, das auf einem humanistischen Gymnasium spätestens in der Quinta abgehandelt ist. "Ich kann mit euch doch nicht mit 'Vita Romana´  ins Abitur gehen. Da lachen ja die Hühner."

   Cäsars "Bellum Gallicum" birgt für den Schüler große grammatikalische Schrecken, bietet in seinem Umfeld aber auch unschätzbare Hilfen. Zum Beispiel diese kleinen Schwarten mit dem sinnigen Titel "Der Schulmann", mit denen sich so trefflich schummeln lässt. 

Man lernt den Lektionsabschnitt auswendig, der in der nächsten Stunde durchgenommen wird, meldet sich lässig mit schnalzenden Fingern, kommt auf Grund der jahrelang geübten Zurückhaltung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dran und legt eine Übersetzung hin, die selbst das Wohlwollen des berühmten Autors persönlich erregt hätte.

   Diese Vorbereitungen trifft man für jede Lateinstunde und meldet sich unverdrossen, bis der Lehrer ausruft: "Nun aber nicht immer dieselben!"

   Über Cäsar und schriftliche Arbeiten ist kein Wort zu verlieren - die sind, mit der Schwarte in der hohlen Hand unterm Tisch, ein Kinderspiel. So dachte allerdings nicht jeder. Bolles Banknachbar Christel, Sohn eines niedersächsischen Pastors, beispielsweise dachte nicht so. Als der während einer Lateinstunde ungewöhnlich eifrig etwas schrieb und der Lehrer sich misstrauisch erkundigte, was er da tue, bekam er die flapsige, aber wahrheitsgemäße Antwort: "Mathematik, Herr Studienrat. Wir schreiben nächste Stunde eine Arbeit. In Latein kriege ich sowieso eine Vier." 

   Bolle hingegen schrieb mit Hilfe der Schwarte glänzende Arbeiten und brach sich damit beinahe das Genick.

"Du bist mein Paradepferd", vertraute ihm der alte Lateinlehrer eines Tages an. "Dich nehme ich ins Mündliche."

Ihm blieb die Spucke weg. Der Atem stockte, das Herz raste. Das war eine Katastrophe, das war mehr als eine echte Katastrophe. Mit der in diesem Fall zu erwartenden Fünf fiel er mit tödlicher Sicherheit gnadenlos durchs Abitur. Eine Fünf in Latein war nur mit einer Eins in einem Hauptfach auszugleichen. Aber woher in überhaupt einem Fach eine Eins nehmen und nicht stehlen?

   Während der letzten Klassenarbeit wurde er bei dem verzweifelten Versuch erwischt, mit Hilfe der Schwarte möglichst viele dumme Fehler zu produzieren, um den Lateinlehrer zum Überdenken seines Beschlusses zu bewegen und das drohende Unheil auf diese Weise vielleicht doch noch abzuwenden. Nach altem Brauch musste der Schummler sein Heft abliefern und vor der Tür auf das Ende der Stunde und den Lehrer warten.

"Es steht noch eine Säule, doch auch sie ist schon geborsten und kann stürzen über Nacht. Von wem ist das?",  seufzte der gutmütige Alte.

"Von Cäsar, Herr Studienrat", kam wie aus der Pistole geschossen die Antwort.

  "Mein Gott, in Deutsch bist du ja auch noch schlecht! Das ist von Ludwig Uhland!  - Weisste was. Ich gebe dir statt 'ner Eins 'ne Drei und nehme dich dafür nicht ins Mündliche. Bist du damit einverstanden?"

So kam Bolle zu seinem Großen Latinum, das bei der Immatrikulation verlangt,  ansonsten aber von ihm nie mehr benötigt  wurde.   

   Zum erwähnten Eklat kam es bei der schriftlichen Prüfung der Kenntnisse in Mathematik.

Lange vor Ablauf der für die Lösung der Aufgaben zugestandenen Zeit legte der Prüfling, der bis dahin ungewohnt fleißig gerechnet hatte und deshalb argwöhnisch beobachtet wurde, den Füllfederhalter nieder und blätterte verstohlen in der als  Hilfsmittel erlaubten Logarithmentafel. Sekunden später raffte sein nur scheinbar unbemerkt herbeigeschlichener Rechenmeister die Prüfungsbögen samt der verdächtigen Tafel an sich und breitete alles unbesehen vor dem zweiten aufsichtführenden Lehrer aus. 

   Der Triumph währte nur kurz: alle Aufgaben waren richtig gelöst - im Schriftlichen war eine Eins fällig.  Die blamablen Nachhilfestunden hatten sich bezahlt gemacht.

Aber da war ja noch die Logarithmentafel! - Aus der flatterte ein Zettel, auf dem stand: Ich schwindle nie!

   Das war eine Provokation, eine unglaubliche Frechheit, die von beispielloser Unreife des Übeltäters zeugte. Zum Glück war der Mathematiker, der auch Turnen unterrichtete, bei der Mehrheit seiner Kollegen im Prüfungsausschuss  wegen seiner überstrammen Art nicht sonderlich beliebt. Nach längerer Beratung im Lehrerzimmer, bei der es deutlich vernehmbar hoch herging, lautete das keineswegs einstimmig gefällte Verdikt: Das Zeugnis der Reife wird erteilt.

Nur mit knapper Not war er  ungeschoren davongekommen

 

   

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