Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Das Ofenrohr

  Die Panzerjägerzüge waren im Gefechtsabschnitt eines Bataillons an Wegen und Straßen verstreut. Der Kompaniegefechtsstand befand sich in einem Bauernhaus, zu dem ein Hohlweg führte. Das Dach und die Scheune waren zerschossen, doch auf dem Hof lief noch Federvieh herum und in den Ställen standen ein paar Kühe. Der Keller war tiefergelegt und die dicke Zwischendecke mit schweren Balken abgestützt; richtig gemütlich, dieser ehemalige Gefechtsstand der Division. Wer Lust hatte, konnte zum Frühstück jede Menge Milch trinken, nachdem er sich am Brunnen im Hof gewaschen  und die Zähne geputzt hatte. Die meisten gurgelten allerdings mit Calvados, von dem ein paar Fässchen im Keller lagerten.

   Einige hundert Meter weiter vorn stand ein kleines Kloster dicht hinter  der Hauptkampflinie. Die amerikanische Artillerie hatten es zur Ruine gemacht, durch die Löcher im Kirchendach waren die feindlichen Stellungen sehr gut einzusehen.

   Die Lage war fast die gleiche wie im Panzergraben von Catania. Der Gegner tastete sich durch die zahllosen Hecken vor, wurde bis auf 50 oder 60 Meter herangelassen, blieb dann im Abwehrfeuer liegen und grub sich ein. In der Nacht zog er sich zurück und überließ der Artillerie das Feld. Die eigenen Truppen stießen nach, behielten Feindberührung und gingen erst wieder zurück, nachdem die feindliche Artillerie die ursprünglichen Stellungen erwartungsgemäß umgepflügt hatte.      

Es war das reinste Katz- und Maus-Spiel, das allerdings nur so lange  gut gehen konnte, wie keine Panzer mitspielten.

   Den ersten sah Bolle vom Dachboden der Klosterkirche hinter einer Böschung in einem  Straßenknick, unerreichbar für die eigenen Kanonen, die sich tagsüber ja nicht rühren konnten. Die Infanterie, deren Maschinengewehrnester links von der Straße im Schussfeld des Panzers lagen und seinem Feuer wehrlos ausgeliefert waren, beschwerte sich heftig.

Bolle war mit einer Kiste Zigarren als Geschenk soeben zur Geburtstagsfeier des Kommandeurs auf dem Abteilungsgefechtsstand eingetroffen, als der Adjutant herantrat. "Bei ihnen davorn scheint der Teufel los zu sein. Der Infanteriekommandeur tobt und schreit nach den Panzerjägern."

"Schau doch mal nach", sagte das Geburtstagskind, "aber bleib nicht solange."

   Jetzt hatte Bolle den Panzer zum Greifen nah im Fernglas - es war ein "Sherman". Ein paar Soldaten hatten zwischen einem weiter hinten stehenden Munitionsfahrzeug und  dem Panzer eine Kette gebildet und reichten Granaten in die Ladeluke, so dass er pausenlos schießen konnte.

"Nehmen Sie ein "Ofenrohr" und kommen Sie mit", befahl er dem stellvertretenden Zugführer, einem Feldwebel. Ein "Ofenrohr" war ein neues Gerät, mit dem von der Schulter aus rückstoßfreie, panzerbrechende Raketen verschossen wurden. Im Gegensatz zur "Panzerfaust", die es zu dieser Zeit noch nicht gab, war es nachladbar.

   Vor der HKL robbten sie sich im Straßengraben bis auf 80 Meter an den feuernden Panzer heran. Der Vorschrift entsprechend setzte Bolle die Gasmaske auf, die mögliche Verbrennungen des Gesichts durch den Feuerstrahl des Treibsatzes verhindern sollte.

Die Scheiben beschlugen schlagartig: die auswechselbaren Klarsichtfolien, die auf  ihre Innenseite gehörten, waren seit Jahren nicht mehr drin. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Scheiß auf die Sicherheitsvorschriften, er musste es ohne Gasmaske riskieren. Das Halstuch vor dem Gesicht musste als Mund- und Nasenschutz genügend. Und die Augen? Die Augen schützten seine Brille. Na also, welcher Fallschirmjäger hatte schon eine Brille?

Er winkte: "Geben Sie her."

Die Rakete detonierte unmittelbar vor dem Panzer.

Zu kurz!

Keinen halben Meter zu kurz. Aber auch knapp zu kurz ist nun mal zu kurz und zu kurz ist immer voll daneben.

Eine Fahrkarte! In dieser Situation eine Fahrkarte! - Ogott-ogott-ogottogott! Das verhieß Teufels Küche.

   Das Maschinengewehr des Panzers hämmerte los, streute jedoch wild in die Gegend. Der Richtschütze an der Kanone setzte  eine Granate viel weiter hinten auf die Straße. Ganz offensichtlich wusste keiner, wo dieser Schuss hergekommen war, aber sie stellten das nervende Maschinengewehrfeuer trotzdem nicht ein. Die Munitionierer gingen in volle Deckung.

"Die nächste", rief er dem Feldwebel zu. -

"Ich hatte nur die eine." -

"Dann holen Sie Nachschub."

Es war nicht zu fassen, der hatte nur eine Rakete, eine einzige Rakete. Aber das hätte Bolle eigentlich merken müssen: als sie loszogen hatte der Mann nur das geladene Ofenrohr in der Hand, nichts als das Ofenrohr; seine Maschinenpistole trug er auf den Rücken.  

Die Lage war fatal, und er selbst hatte die Sache verkorkst. Mutterseelenallein lag er nun in diesem gottverdammten Straßengraben und hatte nicht einmal eine  Maschinenpistole dabei. Seine einzige Waffe war eine lächerliche Pistole vom Typ Walter PPK. 

Wenn sie jetzt vorstießen, konnte er nur noch die Hände heben und hoffen, dass das keine Angstschießer mit nervösem Zeigefinger waren.

Er robbte ihnen 15 Meter entgegen.

   Der Feldwebel kam unerwartet schnell wieder. Triumphierend zeigte er zwei Raketen vor, in jeder Hand eine.

Dank des Stellungswechsels nach vorn war der Panzer diesmal in sicherer Reichweite: der Schuss traf ihn genau zwischen Panzerkastenoberteil und Turm, die verwundbarste Stelle der Vorderseite. Der würde niemand mehr das Leben sauer machen. Am Kompaniegefechtsstand wartete ein nunmehr gutgelaunter Infanteriekommandeur: "Ich komme mit zur Geburtstagsfeier.

   

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