Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Der Brillenträger

   In den Papieren des frischgebackenen Fallschirmjägers stand unter der Rubrik Sonderausbildung "Panzerjäger",  und folgerichtig schickte man ihn von Wittstock nach Gardelegen zur Panzerjägerabteilung der ersten Fallschirmjägerdivision.

Der eigens zu diesem Zweck zurückgelassene Schreibstubenunteroffizier der 2. Kompanie hatte Befehl, den immer noch brillenlosen Bolle zusammen mit fünf anderen Nachzüglern zum Truppenübungsplatz nach Grafenwöhr zu eskortieren, wo sich die Einheit zum Scharfschießen befand.  In Weiden in der Oberpfalz konnte er während des dort erforderlichen Umsteigeaufenthaltes seinen Durst löschen und ein plötzlich unaufschiebbares Geschäft erledigen, das leider länger als erwartet dauerte.

Um es kurz zu machen, als er den Bahnsteig erreichte, war der Bummelzug nach Grafenwöhr schon angefahren und entschwand uneinholbar in der Ferne.

   Er verfluchte sein  Missgeschick, kaufte sich eine  Fahrkarte, denn den Sammelfahrschein hatte der Unteroffizier in der Tasche,  trank noch ein Bier und fuhr zwei Stunden später mit dem nächsten Zug nach Grafenwöhr. Am Bahnhof war kein Wehrmachtsfahrzeug in Sicht, so dass er zu allem Überfluss den weiten Weg zum Truppenübungsplatz zu Fuß zurücklegen musste. Dort lauerte der zornbebende Schreibstubenhengst schon auf ihn und versprach ihm in einer längeren Rede die Hölle auf Erden.

   Nach reiflicher Überlegung setzte Bolle beim ersten Morgenappell nach seiner Ankunft seine Brille zum ersten Mal seit Wien wieder auf  und harrte ergeben der Dinge,  die da kommen sollten.

Dem Spieß schien bei seinem Anblick das Blut in den Adern zu gefrieren. Perplex  starrte er auf das vor ihm stehende Unding und bemerkte dabei den herbeischreitenden Kompanieführer nicht, der irritiert auf die übliche zackige Meldung wartete. 

"Was ist denn los, Hauptfeldwebel?",  fragte er verwundert und erblickte im gleichen Moment die Ursache der Verwirrung.

"Treten Sie vor! Wie heißen Sie? Wo kommen Sie her?  Was suchen Sie hier?"

Bei dem Wort "Suchen" fiel Bolle wieder sein Gewehrschloss ein. 

"Nein, sagen Sie nichts. Gehen Sie zur Schreibstube und warten Sie dort auf mich."  Offenbar war er zu der Einsicht gekommen, dass sich so viele Fragen nicht auf der Stelle klären ließen.

   Dem Schreibstubenunteroffizier verschlug es angesichts der Brille die Sprache. "Ich soll auf  den Herrn Oberleutnant warten, Herr Unteroffizier." - "Warten Sie draußen!" Damit war jeder weiteren Unterhaltung, die doch nur Unerfreuliches bringen konnte,  ein Riegel vorgeschoben.

   Der Oberleutnant hörte sich die Geschichte an,  zeigte bei der Schilderung des Sehtests den Anflug eines Lächelns und meinte schliesslich: "Sie sind ein gerissener Bursche. Ich muss noch mit dem Kommandeur reden. Von mir aus können Sie bleiben."

"Ich werde mir Haftschalen besorgen, Herr Oberleutnant." Jetzt lachte der schallend.

   Der Schreibstubenhengst hatte noch immer eine Stinkwut im Bauch. Der Spieß hatte ihn furchtbar zusammengeschissen, weil er diese Brillenschlange unterwegs verloren hatte. Als Bolle vom Chefzimmer aus wieder die angrenzende Schreibstube betrat, fauchte der Unteroffizier: "Bleiben Sie hier, Sie Würstchen. Ich will mit ihnen reden, sperren Sie ihre Ohren auf. Sie melden sich nach Dienstschluss bei mir.  Bringen Sie eine Zahnbürste mit."

Zahnbürste? Das hatte er doch schon gehört. Das war ein Ammenmärchen aus der Kaiserzeit. 

Es war kein Ammenmärchen aus der Kaiserzeit!  Es war eine bittere Realität der Gegenwart: Bolle schrubbte Abend für Abend die Schreibstube, und für die Säuberung der feinen Ritzen, auf deren gründliche Reinigung der Unteroffizier besonders großen Wert legte,  benötige er - eine Zahnbürste. Während die anderen am Abend in der Kantine ihr Bierchen tranken, bracht er die Schreibstube auf  Hochglanz.

Ein Ortswechsel schien geboten, dringender denn je

 

   

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