Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Befehl ist Befehl

  In Potenza, dessen Einwohner, soweit sie nicht evakuiert waren, fast alle in einem langen Eisenbahntunnel Schutz vor den Luftangriffen der Alliierten gesucht hatten, geriet Bolle, durch eigene Schuld, in eine äußerst fatale Lage. Im Tal zu Füßen der Hauptstadt der Gebirgsregion Basilicata hatte er eine Brücke sprengen lassen und zu seiner Rückendeckung in der nächsten Kurve dahinter ein Kanone  postiert, weil eine steile  Serpentinenstrecke vor ihm lag, auf der jedes Fahrzeug den vermutlich bald auftauchenden feindlichen Panzern ein prächtiges Ziel bot. Der Geschützführer hatte Befehl, die Stellung mindestens 45 Minuten zu halten und spätestens nach einer Stunde nachzukommen. Oben am Stadtrand angelangt, erhielt das zweite Geschütz Befehl, den Rückzug der Kameraden im Tal zu decken. Mit dem dritten rollte er quer durch die zerbombte Stadt weiter bergauf zu einer Straßengabel, an der die gesamte Kompanie den  nächsten größeren Sperrriegel legen sollte.

   Bei der Fahrt durch die Provinzmetropole brannte ein Partisan dem Zugtruppführer einen Flintenschuss aufs Fell. Wahrhaftig - sein Name war Hase, Feldwebel Hase! Als ihm der Unterarzt die Schrotkörner  aus dem Rücken pellte, brüllte er wie ein Löwe.

   Nach zwei Stunden schickte Bolle einen Krad-Melder los, der mit der Nachricht zurückkam, sein Befehl sei unausführbar, die Kanone drunten im Tal wegen Feindnähe nicht mehr zu bewegen. Der Geschützführer bitte um den Befehl, Kanone und Kettenfahrzeug sprengen und sich zu Fuß durchs Gelände zurückziehen zu dürfen.

   Das war eine beschissene Situation, sogar eine sehr beschissene! Welcher Vorgesetzter lässt sich schon gern sagen, sein Befehl sei unausführbar? Wer unausführbare Befehle gibt, verliert bei der Truppe sein Gesicht und wird von seinen Untergebenen nicht mehr ernstgenommen. Das hatte er nicht erst auf der Kriegsschule gelernt. 

   Unter sporadischem Flintenfeuer - in Potenza gab es offenbar eine ganze Menge passionierte Hubertusjünger - ließ sich Bolle zu dem Geschütz oben am südlichen Stadtrand fahren und sah sich die Bescherung an: Etwa auf gleicher Höhe jenseits des Tales waren etwa 20 oder 30 schwere Panzer aufgefahren, und unten am Fluss, praktisch direkt vor dem Rohr der zur Sicherung zurückgelassenen Kanone werkelten amerikanische Pioniere an einer Behelfsbrücke. 

   Es waren genau 27 Panzer; der neben ihm stehende Feldwebel hatte sie ehrfürchtig gezählt. Wenn Bolles Leute im Tal sich in dieser Lage gemuckst hätte, wäre das glattem Selbstmord gleichgekommen. Natürlich wäre es das Vernünftigste gewesen, die Klamotten stehen zu lassen und stillschweigend Reißaus zu nehmen. Um jedes Aufsehen zu vermeiden, hätte man das Material nicht einmal mit Getöse vernichten müssen; die Amis brauchten den Plunder sowieso nicht. Alles richtig - aber der verdammte Befehl. "Unter allen Umständen", hatte er gesagt. Das wussten alle, denn er hatte seine Schnauze weit genug aufgerissen.

   Also machte sich Bolle auf den Weg ins Tal. Er ließ die durch Büsche gegen Sicht geschützte Kanone aufprotzen und befahl der Bedienungsmannschaft sich zu trollen. Dann setzte er sich ans Steuer und lauschte den Hammerschlägen der Pioniere.  Er sah, dass die Panzer am Hang sich zur Straße hin einfädelten und ließ den Motor an, als die ersten Ketten auf der Brücke rasselten.

   Genau um eine Serpentinenlänge fuhr er der feindlichen Panzerkolonne voraus und wartete mit klopfendem Herzen und zitternden Knien auf den großen Knall. Der aber blieb aus. Dafür knallte es prompt, nachdem er die Geschützstellung am Stadtrand passiert hatte. Kaltblütig hatte der Geschützführer mit dem "Feuer frei" gewartet, bis der dritte Panzer der Kolonnenspitze in die letzte Kehre eindrehte, erst dann ließ er schießen. Anschließend waren der erste und der zweite an der Reihe. Der Richtschütze war ein fixer Bursche, den musste man sich merken.

   Die Sache sprach sich schnell herum, und von Stund an war Bolle in der ganzen Abteilung ein geachteter Mann. Einen unausführbaren Befehl erteilte er seinen Lebtag nie wieder.  -

"Ganz schön bekloppt", meinte der ehemalige Gefreite vom Kompanietrupp vor Leningrad, der mit einer Flasche Marsala im Gepäck eigens vorbeischaute, um ihm das zu sagen.

Marsala!

"Nein, nein", wehrte Bolle voller Grausen ab und stellte schnell eine halbe Flasche Kognak auf den Tisch. "Du bist selbstverständlich mein Gast!"

 52 Jahre danach kam in einer Pizzeria an der Ostsee das Gespräch auf Marsala. Der aus Sizilien stammende Wirt sprang freudig auf und füllte drei Gläser. Bolles Frau fand den Wein köstlich. Er nippte nur. Nanu? Der Marsala schmeckte ihm wieder. Bei einem Gläschen blieb es nicht; es wird wohl am Jahrgang gelegen haben.

 

   

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