Der Mansfeld kommtErinnerungen an Krieg und FriedenAutor: Helmut Bollmann
|
Der KnastbruderDas eiserne Bettgestell war zum Schlafen denkbar ungeeignet, weil es nur noch fünf schmale Bretter aufwies, die er in der Nacht des öfteren verschieben musste, damit die blauen Flecken am Körper einigermaßen gerecht verteilt wurden. Die Verpflegung bestand aus Wasser und Brot. Einziger deutscher Mithäftling war ein Landwirt aus Greifenhagen, der angeblich seiner Ablieferungspflicht nicht nachgekommen war und nun in der Nachbarzelle hockte. Die übrigen drei Zellen auf dem Flur waren mit Russen belegt, die hier ihre Arreststrafen verbüßten. Ansonsten waren sowohl das Gefängnis als auch das angrenzende Gerichtsgebäude zunächst völlig menschenleer. Einmal am Tag, so gegen 14 Uhr, kamen ein paar Russen mit einem Panjewägelchen und brachten das Essen: einen Kanten Brot für die Deutschen, jede Menge Pellkartoffeln für ihre arretierten Kameraden. Außerdem leerten sie die Klokübel in den Zellen. Als sie einmal Bolles Kübel nicht zurückbrachten, sie hatten es einfach vergessen, hämmerte er mit den Fäusten an die Zellentür, um die Säumigen herbeizurufen. Die Klopferei hatte nicht den gewünschten Erfolg, statt dessen schwang zu seiner Verblüffung die Tür auf. Des Rätsels Lösung: der durch kein Vorhängeschloss gesicherte Eisenriegel glitt langsam zurück, wenn man kräftig im Rhythmus pochte. So also ließ sich die Zellentür öffnen, aber wie war sie wieder zu schließen? Bolle musste diese verdammte Tür wieder zumachen, wenn die Sache nicht auffallen sollte. Diesen Fluchtweg wollte er sich für den Notfall offen halten, für den Fall, dass sie ihn nach Sibirien abtransportieren wollten. So etwas sollte ja vorkommen. Er hatte alle Zeit der Welt, die Russen würden sich erst am nächsten Mittag wieder sehen lassen. Das Guckloch in der Tür war von außen durch einen blecherne Pendelscheibe verschlossen, die übliche Glasscheibe im Rahmen dahinter fehlte. Bolle besaß einen halblangen Bleistift, mit dem er zum Zeitvertreib mathematische Gleichungen auf die Bettbretter kritzelte. Im angrenzenden Gerichtsgebäude - die Verbindungstür war nicht verschlossen - fand sich ein Stück Bindfaden. Das genügte. Er knotete den Bleistift in der Mitte fest, schob das Ende des einen Fadens durch die beiden Löcher im Riegel und in der Halterung, klappte die Blechscheibe nach oben und führte beide Fadenenden hindurch. Dann begab er sich wieder in die Zelle, zog die Tür zu und den Faden, der durch die Löcher führte, an. Der Bleistift legte sich quer vor das runde Loch im Riegelgriff, ein Ruck und der Riegel glitt nach vorn. Jetzt brauchte er nur noch dieses Fadenende loszulassen und mit dem anderen den Stift einholen. Klappe zu, Affe tot - es funktionierte. Vorsichtshalber lockerte er noch ein Fenstergitter im Kohlenkeller unter dem Gefängnistrakt, der über eine Seitentreppe zu erreichen war. Dann übernahm er das Amt des Schließers: Er öffnete die Zellentüren seiner "Knastbrüder", so dass sich alle auf dem Gang treffen und ein Schwätzchen halten konnte. Die eingesperrten Russen dankten es ihm mit Machorka und den übriggebliebenen, kalten Pellkartoffeln, die er zusammen mit dem Bauern aus Greifenhagen heißhungrig samt Pelle verschlang. Die russischen Arrestanten wechselten, die Prozedur blieb die gleiche. Mittags gab es Pellkartoffeln, jetzt sogar noch lauwarm. Mit dem fidelen Knast war es leider allzu bald vorbei: das Amtsgericht wurde einer russischen Infanteriekompanie als Kaserne zugewiesen, auf dem Gang schritt ständig eine Wache mit umgehängter Maschinenpistole auf und ab. Nach sechs Wochen kam ein Offizier und wies Bolle die Tür: "Du gehn." - "Aber, meine Uhr - -." - "Nix Uhr, du gehen!" |
|