Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Der Schachspieler

   In den Hotelzimmern des Preußischen Hofes wohnten die Offiziere der Kommandantur. Eines Abends klopfte es. Die Frauen flüchteten, wie stets in solchen Fällen, über die Hintertreppe auf die Empore des Saales. In der Tür stand ein Unterleutnant mit dem Orden "Held der Sowjetunion" an der Brust. Bolle kannte ihn vom Sehen, sie waren sich schon öfter auf der Haupttreppe begegnet, die zur Gaststätte hinunter führte. Bei den Saufereien, die seine Kameraden fast jeden Abend veranstalteten, hielt er sich  zurück.

   Unter dem Arm hatte er ein Schachbrett, in der Hand eine Flasche. "Du spielen Schach? fragte er. Bolle nickte: "Ja, aber nicht gut." - "Macht nix. Du Glas?" - Bolle hatte, zwei Biergläser a 0,5 Liter. "Du warten, ich hole Bier." Er kehrte mit einem Glas Bier von der Theke zurück und goss  die Hälfte in eines der leeren Gläser. Dann zog er den Korken und füllte auf. Das Bier im Glas wallte auf, es brodelte und zischte, es roch nach Raketentreibstoff.

   "Nastrowje!" - "Nastrowje!" - Bolle nahm einen Schluck. Es war ein Höllenstoff. Er wurde gar nicht erst betrunken, nach einer Weile wurde er gleich ohnmächtig. Als er wieder erwachte, lag er im Bett, die Frauen saßen besorgt auf der Kante. Der Russe war weg.

   Am nächsten Abend kam er wieder. Bolle schüttelte energisch den Kopf: "Ich nix trinken, ich nix hier". Dabei schlug er sich auf den leeren Magen.

"Oh, warum du nix sprechen?"

   Diesmal brachte er ein großes Brot, einen riesigen Klumpen Butter und eine ganze geräucherte Gans. "Du essen,  alle essen", befahl er. Beim ersten Spiel setzte er Bolle nach einer raffinierten Eröffnung schnell matt. Das zweite gewann er mit einigen heimtückischen Zügen, das dritte endete mit einem Remis. "Ich wiederkomme", sagte er beim Abschied. "'Ich komme wieder', heißt es", verbesserte Bolle. "Oh gutt, gutt, ich lernen deutsch."

   Er kam oft, und eines Tages brachte er sogar seine Frau mit. Er hatte sie als erster von allen Offizieren im Kreis nachkommen lassen dürfen. Schließlich war er ein privilegierter "Held der Sowjetunion". Seine Frau sah genau so aus, wie man sich eine Russin vorstellt. Sie sah aus wie Lil Dagover, nur etwas draller. Sie war im siebten Monat schwanger und kippte den Raketentreibstoff schneller als er. -

   Das letzte Mal sah Bolle ihn im August 1946.  Er hatte eine dicke Aktentasche bei sich und sagte nur: "Du weit weg! Dawai! Dawai!" Damit verschwand er, so schnell, wie er gekommen war.

   Wenn Nikolai "Dawai", sagte, dann brauchte er das Bolle nicht zweimal sagen. Als am nächsten Morgen zwei deutsche Hilfspolizisten an die Dachkammertür klopften, war der Vogel längst ausgeflogen.

   Noch am Abend des Vortages war er in Halle gewesen  und drei Stunden später hatte er mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Rot-Kreuz-Station im Leipziger  Hauptbahnhof gesessen. Beim Umsteigen in Sandersleben war die Zeit etwas knapp gewesen. Der Stationsvorsteher hatte die Abteiltür hinter ihm zugeworfen, die Kelle gehoben und  zur Abfahrt gepfiffen.

    "Da haben Sie aber Glück gehabt", sagte der am Fenster neben der Tür sitzende einzige andere Fahrgast im Abteil. Bolle klinkte die nur halb eingerastete Tür wieder auf, zog seinen linken Mittelfinger aus der Spalte und hielt ihn dem älteren Herrn vor die Augen.

"Das nennen Sie Glück?" Der Nagel war ab, aus der zerquetschten Fingerkuppe ragte der blanke Knochen heraus. Der ältere Herr schloss die Augen, sackte etwas zur Seite, und schlug  sie  erst kurz vor Halle wieder auf. Bolle wickelte sein Taschentuch um die stark blutende Wunde und presste es fest an, er hatte höllische Schmerzen.

   Der Arzt in Leipzig hatte ihm eine Spritze gegeben und bot ihm an, das oberste Fingerglied gleich zu amputieren; das würde nie wieder etwas. Bolle lehnte ab; er wollte nicht scheibchenweise zerlegt werden und wenigstens versuchen, seinen Finger zu behalten. Der Heilungsprozess war lang und schmerzhaft, aber die Fingerkuppe blieb dran.

   

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