Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Der Unteroffizier

   Die Kompanie lag in der Normandie und übte eifrig Panzerabwehr. Bolle wurde zum Gefreiten befördert und auf einen Lehrgang geschickt, von dem er betresst als Unteroffizier zurückkehrte. Mit Sidre, Calvados und dem Teufelszeug Pernod kannte er sich nunmehr hinreichend aus, Schnecken und Froschschenkel waren ihm kein Gräuel mehr, so dass einem Verbleib in Frankreich eigentlich nichts im Wege stand.

Eigentlich - wäre da nicht dieser Marschbefehl gewesen Per Bahn verlegte die gesamte Abteilung mit Mann und Maus quer durch Frankreich, Deutschland und Polen nach Smolensk.

Russland hatte ihn wieder, doch gottlob auch diesmal nicht für die Ewigkeit.

   Von Smolensk quälte sich die Truppe durch Schlamm und Dreck in Richtung Nordost und bezog unterwegs für drei Tage in einem am Wege liegenden Dorf Quartier. Die Bevölkerung war freundlich, tauschte Butter gegen Tabak, und Bolles Quartierwirt bot seinem Gast sogar den Ehrenplatz in der Mauernische zwischen Wand und Ofen an, auf dem die vielköpfige Familie schlief.

   In dieser friedlichen Umgebung traf Bolle auf einen fürchterlichen Feind. 

Mitten in der Nacht erwachte er mit einem unbehaglichen Gefühl. Das Bild, das sich im Scheinwerferlicht der Taschenlampe bot, hätte selbst starke Männer erbleichen lassen. Da nahte keine Kompanie und auch kein Bataillon, da marschierte eine ganze Division auf.  Na, vielleicht war es keine ganze Division - wenn man in Panik gerät, schätzt man die Lage oft falsch ein. Jedenfalls hätte man blindlings mit dem Pfeil drauf schießen können, jeder Schuss wäre ein sicherer Treffer gewesen.

Bettwanzen über Bettwanzen soweit das Auge reichte; die ganze Wand voller Wanzenkolonnen. Weiß der Teufel, wo die herkam; tagsüber war keine einzige zu sehen gewesen.

   Am nächsten Abend traf Bolle alle nur erdenklichen Abwehrmaßnahmen. Er stellte alle vier Beine einer Holzbank in mit Wasser gefüllte Konservendosen, zog seine Springerhandschuhe und -stiefel an, umwickelte die Stulpen sicherheitshalber mit Mullbinden und streckte sich so versiegelt auf der leider nur sehr schmalen Bettstatt aus.

Alles vergebens! Am Morgen waren seine Hand- und Fußgelenke gequollen wie ein Hefeteig.

Der Vollständigkeit halber sei noch hinzugefügt, dass auch ein mit Petroleum getränkter Papierstreifen, den er am letzten Abend über seinem mehr als unbequemen Nachtlager befestigte, rein gar nichts brachte. Die Wanzen ließen sich trotzdem zielsicher von der Decke fallen. Die Quartiergeber, die seinem abendlichen Treiben verwundert zusahen, müssen gedacht haben: "Die spinnen, die Deutschen."

   Der Befehl zum Weitermarsch an die Front erschien ihm wie eine Erlösung, führte jedoch vom Regen in die Traufe. Im übrigen war der Begriff "Front" in diesem Fall sehr weit gefasst. Seine Abteilung hatte den Auftrag, auf der Sehne eines Frontbogens eine Auffangstellung zu errichten und gegebenenfalls einen Durchbruch des Gegners zu vereiteln. Tatsächlich geschossen wurde nur in weiter Ferne.

   Bis zur Fertigstellung eines Erdbunker hauste Bolles Geschützbedienung in zwei schnell aufgeschlagenen Zelten, in denen es so kalt war, dass sich nachts Reif auf den Gewehrläufen bildete.  Entsprechend zügig kam der Bau des Bunkers voran. In aller Eile wurden die Grube ausgehoben und im nahen Wald  die benötigten Bäume gefällt. Ein paar ganz Schlaue sparten sich diese Mühe und holten aus einem niedergebrannten Dorf in der Nachbarschaft eine Fuhre Balken, was sich als schwerer Fehler erwies: die Wanzen waren schon vor dem Einzug der Erbauer im Unterstand. Aber nicht nur Wanzen. Bolle hatte plötzlich Kleiderläuse, die gesamte Mannschaft hatte Kleiderläuse. Und die waren anhänglich. Man konnte ihren Bestand durch fleißiges Knacken bestenfalls zeitweilig verringern, auszurotten waren sie nicht.

   Außer Läuseknacken und Hungern gab es kaum etwas zu tun. Die Verpflegung war miserabel: Drei Mann ein Brot, dazu ein Klacks Kunsthonig, der übles Sodbrennen verursachte, etwas Margarine und ein Klümpchen Kochkäse. Mittags ein Kochgeschirr Suppe aus Trockengemüse ohne jede Spur von Fett oder Fleisch. Bolle hat in seinem Leben nie mehr so gehungert, selbst nicht in der ersten Nachkriegszeit.

   Eines Tages erhielt er in seinem Bunker unerwarteten Besuch. Es war der einstige Gefreite vom Kompanietrupp vor Leningrad, der ihm eine Flasche Schnaps und die frohe Botschaft brachte, dass er zu einem Vorbereitungslehrgang für die Kriegsschule abkommandiert werde. Das hatte der Besucher am Rande einer Lagebesprechung beim Abteilungskommandeur gehört, an der er als nunmehriger Leutnant und Zugführer in einer Schwesterkompanie  teilgenommen hatte.

Die Flasche war schnell geleert.

   Drei Tage später wurde Bolle zum Abteilungsgefechtsstand befohlen, wo ihm der Adjutant des Kommandeurs den Marschbefehl aushändigte und, da es schon sehr spät war, für die Nacht den Küchenbunker als Notquartier zuwies. Die Küchenbullen spielten noch Skat und setzten ihm ein Brot und ein Kochgeschirr voll Vierfruchtmarmelade vor. Er schlang gierig eine Marmeladenschnitte runter, steckte dann aber sein Kappmesser wieder ein, denn er wollte den Kameraden ja nicht allzu viel von ihrer Ration wegessen. Auf die Frage, ob er denn schon satt sei, schüttelte er allerdings bei aller Bescheidenheit wahrheitsgemäß den Kopf.

   "Und Trumpf, und Trumpf, und Trumpf", knallte einer der Küchenbullen seine letzten Karten auf den Tisch. Und dann zu Bolle gewandt: "Du kannst essen, soviel du willst. Es ist genug da."

Da hat er das ganze Brot aufgefressen und die ganze Marmelade dazu, mindestens ein Pfund.

   Der Lehrgang, an dem zwölf Unteroffiziere und Feldwebel teilnahmen, fand in einer waldumsäumten Ortschaft mitten im Partisanengebiet statt. Bolle war zusammen mit fünf anderen Kameraden in einem Haus einquartiert, dessen Besitzerin bei einer Nachbarin Unterschlupf gefunden hatte, sich aber täglich eine Portion Kartoffeln aus ihrem Keller holte, der durch eine Falltür in der Küche zugänglich war. Als eines Tages die Verpflegung wegen eines Partisanenüberfalls ausblieb, stibitzten die hungrigen Bewohner ein paar von diesen Kartoffeln und kochten sie.

   Wie die Frau bei diesem großen Vorrat einen derart kleinen Schwund feststellen konnte, blieb schleierhaft. Jedenfalls entdeckte  sie die Missetat und beschwerte sich resolut beim Ortskommandanten, der ein gewisses Verständnis für die Hungerleider zeigte, von einer Bestrafung absah und lediglich Wiedergutmachung durch Abgabe einer halben Tagesration pro Mann befahl. Zufrieden lächelnd legte die Hausbesitzerin bei ihrem nächsten Besuch drei Kommissbrote, drei  kleine Dosen Bierschinken und drei Ölsardinenbüchsen auf ihre Kartoffeln im Henkelkorb. Die Margarine mit einem leichten Stich ins Gelblichgrüne verschmähte sie. -

   "Neben der Feldküche steht ein LKW, der holt in Smolensk Verpflegung und bringt Sie zum Bahnhof. Von da aus müssen Sie zusehen, wie Sie nach Berlin kommen. Wie ich soeben hörte, sind die Gleise wieder einmal an mehreren Stellen gesprengt", sagte der Adjutant nach Lehrgangsabschluss und schüttelte Bolle zum Abschied freundlich die Hand.

   Der machte in Smolensk einen großen Bogen um die Bahnhofskommandantur, kletterte, von den Wachposten unbemerkt, in einen der Güterwagen eines zur Abfahrt bereitstehenden Lazarettzuges, gab einem Schwerverwundeten, der als einziger nicht döste oder schlief, eine Schachtel Zigaretten und haute sich neben ihm ins Stroh. Als er erwachte, ratterten die Räder. An der Grenze unterzog er sich mit Freuden der unumgänglichen Entlausungsprozedur und setzte sich dann in den nächsten Zug nach Berlin.

Die Ostfront hatte ihn zum letzten Mal gesehen

 

   

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