Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Die Amputation

   Dann kam der Durchbruch der Alliierten bei Avranche und mit ihm die Verlegung nach Deutschland. Schon der Rütteltransport im Sanka zu einem Pariser Bahnhof bekam ihm gar nicht. Im Lazarettzug schwanden ihm immer öfter die Sinne. In Metz soll der Zug in einen Bombenangriff geraten sein. Bolle kann sich nur dunkel an zuckende Blitze und würgenden  Rauch erinnern.

   Als er die Augen aufmachte, war er in Heilbronn - am Bett saß lächelnd der Vater.

Die Bluttransfusion, die er von ihm erhielt, war die erste, nach der er nicht zitterte und fror. Im übrigen ging es ihm miserabel. Er hatte ständig Fieber, die Schmerzen an der Wirbelsäule  peinigten pausenlos.

   "Ich kann ihnen da nicht helfen", sagte der Arzt, "wenn ich jetzt am Beckengips rühre, kann ich ihnen gleich das Bein abnehmen. Das ist ein noli me tangere." Der Trost, den die Oberschwester in ihrer rauen Art zu spenden versuchte, war auch nicht hilfreicher: "Sie werden sich dran gewöhnen. Wenn der Gips später runter kommt, wird ihnen direkt etwas fehlen." So ein blödes Geschwätz hatte er lange nicht mehr gehört. Aber sie sollte auf makabre Weise recht behalten, danach fehlte ihm tatsächlich etwas - das linke Bein. 

   Das Knie war eine einzige große offene Wunde, auf der die Schmeißfliegen herumkrabbelten und ihre Eier ablegten. Die leichenblassen Maden waren ein ekelhafter Anblick. Der Chefarzt betrachte die widerliche Szene mit Gelassenheit: "Die fressen den Eiter auf. So sauber kann ich ihnen die Wunde gar nicht machen." Pfui Deibel. Bolle bestand auf einer Gazehülle ums Knie.   

   Bei Fliegeralarm wurde er wegen absoluter Transportunfähigkeit  als einziger auf der ganzen Station nicht in die Luftschutzräume gebracht. In der Nacht, in der Heilbronn in Flammen aufging, hatte er im obersten Stockwerk einen Logenplatz - er kam sich vor wie Nero beim Brand von Rom. Der junge Sanitäter, der bei ihm Wache halten musste, hatte keinen Sinn für historische Größe. Seine Zähne klapperten, er zitterte wie Espenlaub. Der Mann tat ihm leid: "Gehen Sie in den Keller. Das ist ein Befehl. Aber lassen Sie sich nicht von der Oberschwester blicken, das spart mir einen  Haufen Ärger."

   Bolle kämpfte täglich um sein Bein. "Die Geschichte ist beim Transport aus den Fugen geraten", meinte der Chefarzt. "Wir müssen amputieren."

Offiziere genossen gewisse Vorrechte. In diesem Fall lief ohne Bolles Zustimmung nichts. Der Doktor hatte den Vater eigens zu dem Zweck wieder nach Heilbronn kommen lassen, ihn zur Amputation zu überreden. Vielleicht ließ sich die Operation tatsächlich nicht mehr umgehen. Beim Plaudern mit dem besorgten Vater trat er immer öfter mal weg.

   Bei der nächsten Morgenvisite sagte der Chef ihm eiskalt ins Gesicht: "Hören Sie die Salutschüsse hinten auf dem Friedhof? Wenn Sie sich nicht noch heute amputieren lassen, fallen die nächsten Schüsse über ihrem Grab." -

   "Also, wenn's denn sein muss. Aber bevor der verdammte Beckengips nicht runter ist, kriege ich keine Spritze." Er wollte unbedingt wissen, was mit dem Rücken geschehen  war. Die Oberschwester wollte es auch wissen. Warum hatte sich dieses Gerippe  beim Betten immer so angestellt, wie eine Prinzessin auf der Erbse?

   Beim Aufsägen des Gipses streifte das Sägeblatt den rechten Beckenknochen. Er stürzte kopfüber pendelnd in einen tiefen Brunnen. Im Fall kam der Kopf der Brunnenwand mit jedem Pendelschlag ein Stück näher. Dann krachte er dran und zerschellte.

   Eine weibliche Stimme rief ununterbrochen "Herr Leutnant! - Herr Leutnant!"

Als er die Augen kurz aufschlug, sagte sie: "Na, endlich, da sind wir ja wieder." Eine Tür klappte.

W-o-o  war er wieder? -

   Oh,  ja, man hatte ihm das linke Bein abgenommen.

Nein - hatte man nicht, es war noch da, er konnte es deutlich spüren.

Mit der linken Hand tastete er nach dem Knie - er griff ins Leere. Kein schönes Gefühl.

   Von da an ging es langsam wieder aufwärts. Hin und wieder bekam er hohes Fieber. Dann hatte sich jedes Mal ein dicker Abszess im Stumpf gebildet, der unter Vollnarkose aufgeschnitten wurden. Und immer wieder fiel er dabei mit dem Kopf voran in den Brunnen. "Sie haben's gut, Sie spüren nichts mehr", seufzte der Narkosearzt, als zu Beginn eines solchen Eingriffs Bomben auf Heilbronn niederprasselten. Hatte der eine Ahnung, der fiel ja nicht mit in diesen verdammten Brunnen.

   Die Oberschwester war zunächst konsterniert und danach wie umgewandelt. Im Beckengips hatte sich eine jener Papprollen gefunden, auf die Gipsbinden vor dem Anlegen aufgewickelt sind. Sie bildete eine knochenharte Wulst und war neben der Wirbelsäule ins Fleisch geeitert. "Sie armer Junge, was müssen Sie gelitten haben."  

   Nun folgte Festtag auf Festtag. Der erste war, als es ihm mit Hilfe beider Hände unter größter Anstrengung gelang, den rechten Oberschenkel leicht anzuheben: das völlig versteifte Knie beugte sich Millimeter um Millimeter. Es war ein Gefühl wie Weihnachten. Ein anderer war, als er mit Hilfe zweier Schwestern zum ersten Mal auf der Bettkante schwankte. Obwohl sich das Zimmer immer schneller drehte, hielt er eine volle Minute durch.

   

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