Der Mansfeld kommtErinnerungen an Krieg und FriedenAutor: Helmut Bollmann
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WippraDie letzte Kriegsweihnacht verbrachte Bolle daheim im Kreis der Familie. Zuvor hatte ihm der Chefarzt in Eisleben das mit dem Dank des Vaterlandes verliehene Verwundetenabzeichen in Gold überreicht. Am Neujahrstag begleitet er seine junge Frau, die ihrer Niederkunft entgegensah, ins Krankenhaus nach Wippra. Träger des hoch über Wippra gelegenen Krankenhauses war die "Allgemeine Land- und Ortskrankenkasse des Mansfelder Gebirgskreises" - und deren Leiter war der Vater. Der frühere Chefarzt war bereits 1938 eingezogen worden. In seinem schönen Holzhaus nahe bei der Einfahrt am Hang wohnte nach wie vor seine Frau mit ihren vier Kindern. Schorschel (im Bild rechts mit Bolles Eltern) war ein urgemütlicher, etwas korpulenter Oberfranke aus Bamberg. Wer seine dicken Wurstfinger sah, hätte ihm niemals diese feinen Nähte zugetraut, die er so akkurat wie ein Schneider in der Londoner Savil Road legte. Seine Hände zitterten nie, über sein Fingerspitzengefühl konnte man nur staunen. Er war Oberarzt in Sauerbruchs Charité gewesen - er war nicht nur ein vorzüglicher Operateur, er war auch ein ausgebuffter Doktor. Einmal wurde ein Landarbeiter mit Atembeschwerden eingeliefert. Die Röntgenaufnahme ergab, dass dem Mann bei der Ernte fast unbemerkt eine Ähre in die Luftröhre geraten war. Er hatte damals kurz gewürgt, und nun bekam er kaum noch Luft. "Mit dem Messer ist da so ohne weiteres nichts zu machen, die Lunge würde sofort kollabieren", meinte Schorschel nachdenklich. "Der Mann gehört eigentlich in die Unterdruckkammer der Charité. Aber ehe er uns hier unter den Händen wegstirbt, kann ich wenigstens was versuchen." Damit ging er zu einem Schrank, entkorkte eine dickhalsige Flasche und hielt sie dem Patienten dicht unter die Nase: "Riechen Sie mal, aber kräftig." Der Mann holte tief Luft, dann hustete er sich praktisch die halbe Lunge aus dem Leib und mit ihr ein eitriges Blutbündel - die Ähre. "Bei uns daheim nennt man das hinterfotzig", meinte der Doktor Eisenbart zufrieden. "Willst du auch mal schnuppern, es ist Salmiakgeist." Bolle bewunderte ihn grenzenlos. In Wippra lernte Bolle den damals berühmtesten Arzt Deutschlands höchstpersönlich kennen. Und das kam so: Bettina von Ribbentrop, die Tochter des Reichsaußenministers, war in den Weihnachtsferien des Jahres 1938 bei Harzgerode mit dem Auto verunglückt. Der Chauffeur war im dichten Schneegestöber von der Straße abgekommen und im Graben gelandet. Ein anderer Mercedes der Kolonne hatte die Bewusstlose ins nächste Krankenhaus gebracht. Jetzt lag sie mit einer Gehirnerschütterung, aber schon wieder erwacht, in einem Einzelzimmer im ersten Stock. Ein reiner Routinefall - sollte man meinen. Falsch gedacht! Ein gewöhnlicher Sterblichen fiel unter diese Kategorie, nicht aber ein Familienangehöriger eines Mitgliedes der höchsten Führungsebene. Professor Sauerbruch wurde geweckt, auf dem Berliner Flughafen liefen schon die Motoren eines Sonderflugzeuges, in Halle erwartete ihn eine Polizeieskorte für die Autofahrt nach Wippra. - Der Professor schlürfte in der Wohnung unter dem Dach seinen Tee. "Seien Sie froh, dass Sie nicht mehr in Berlin sind", sagte er zum Schorschel. "Lauter Irre, das sehen Sie ja selber. Holen mich wegen so einer Lappalie aus dem Bett. Irre, sage ich ihnen, lauter Irre. - Und wer ist der junger Mann hier?" - "Das ist auch ein Irrer, Herr Professor, der will Chemie studieren", sagte Schorschel. "Warum denn nicht? Manchmal wünsche ich, ich wäre Chemiker. - Und die Kleine behalten Sie mindestens drei Wochen hier. Die gute Luft hier wird ihr gut tun." Damit verschwand die Koryphäe - Tatütata! - Tatütata! "Ich möchte nicht wissen, was der dem Ribbentrop für 'ne Rechnung schreibt", meinte Schorschel. Die muss ziemlich gesalzen gewesen sein. Ihm selbst überwies der Professor 500 Reichsmark. Das war seinerzeit eine Menge Geld. - Bolle überlegte es sich nicht - hätte ja auch nichts genützt. Der Krieg stand vor der Tür, der Außenminister hätte es eigentlich damals schon wissen müssen. (Bild: Krankenhaus Wippra) Seitdem waren fast auf den Tag genau sechs Jahre vergangen. Am 8. Januar 1945 kam Bolles Tochter Heidi zur Welt. Schorschel zog ein sorgenvolles Gesicht. "Was ist das für eine Beule am Kopf?" Es war keine Beule und es war nicht der Kopf, es war der Popo - eine Steißgeburt, die unter seinen geschickten Händen komplikationslos verlief. Natürlich wurde gefeiert. Die Oma reiste an und der Opa veranstaltete für die Schwesternschaft eine Tortenschlacht. Unterm Dach knallten wieder einmal die Korken. Acht Tage später fuhr der junge Vater mit Frau und Kind mit der Wippertalbahn, dem "Wipperlieschen", nach Hause. Leider währte das junge Glück nur kurz |
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