Der Mansfeld kommt

Erinnerungen an Krieg und Frieden

Autor: Helmut Bollmann

 

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Der Dolmetscher

   Vom Bahnhof ging er stracks zur Universität. Am Schwarzen Brett fand er ein ihm passend erscheinendes Zimmerangebot, "Märchenwiese" klang gut. Eine verhärmte junge Frau zeigte ihm die Studentenbude: Bett, Schrank, Stuhl, Schreibtisch und ein Waschbecken mit fließend Wasser - es war alles da.

   "Es ist kalt, ich habe keine Kohlen mehr", sagte die Frau, an die sich ein zitterndes Kind klammerte. "Haben Sie eine Kohlenkarte?"

   Bolle hatte keine Kohlenkarte, aber er hatte Kohle, jede Menge Kohle! In der Aktentasche vom Nikolai befanden sich mehr als 45.000 Reichsmark - gebündelte Scheine in abgestempelten Banderolen. In welcher Bank hatte er diesen Zaster wohl hatte mitgehen lassen? Na ja, schließlich war er "Held der Sowjetunion", immer bei den ersten.

   Bolle belegte einen Sprachkursus, um sein Schulenglisch nicht nur aufzufrischen, sondern möglichst perfekt Englisch zu lernen.  Ein halbes Jahr lang besuchte er diesen Kursus und gehörte zu den eifrigsten Studenten. Unermüdlich paukte er Vokabeln, meist schon um drei Uhr in der Früh. Um diese Zeit wurde die nächtliche Stromsperre in seinem Leipziger Wohnbezirk gewöhnlich aufgehoben. Der Wecker klingelte, er zog sich Mantel und Handschuhe an - nachts wurde nicht geheizt - legte sich wieder ins Bett und lernte Vokabeln, sämtliche unregelmäßigen Verben und die Zeiten von der kompliziertesten Vergangenheit bis in die fernste Zukunft. Wenn er schon in den Westen ging, dann wollte er auch die dortige zweite Landessprache beherrschen.

   Anfang Februar fuhr er - mit einer erstklassigen Dolmetscherurkunde in der Tasche - über Eisleben und Sangerhausen dicht an der Heimatstadt Mansfeld vorbei nach Nordhausen, Leinefelde und Dingelstädt aufs Eichsfeld. Er musste x-mal umsteigen, verbrachte viele Stunden auf eiskalten Bahnsteigen und in total überfüllten Zügen. Er hatte Leipzig trotz hoher Schwarzmarktpreise als noch immer reicher Mann verlassen, bei der Ankunft auf seinem Zielbahnhof Lengenfeld unterm Stein war er ein bettelarmes Schwein.

   Während des Schlafes hatte man ihm sogar die Mütze vom Kopf gestohlen, von dem immensen Startkapital ganz zu schweigen: von den dicken Geldbündeln im Rucksack ließ sich kein einziges Scheinchen mehr finden. Er musste verdammt fest geschlafen haben. Immerhin hatten sie ihm den Mantel nicht ausziehen können. Immerhin hatten sie ihm einen Kanten Brot und einen Zipfel Hartwurst im Rucksack gelassen. 

Immerhin.

   Jetzt stand er da in seinem dünnen Mantel und seiner einst prächtigen Ausgehuniform, die die Mutter in einen, inzwischen fadenscheinig gewordenen Zivilanzug verwandelt hatte. Kaum noch einen Pfennig in der Tasche, nicht einmal eine Mütze über den rotgefrorenen Ohren.  Er saß wieder einmal mittendrin in der Scheiße, aber deswegen konnte man sich ja nicht jedes Mal gleich aufhängen.

   

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